Klaus Frieler kf@omniversum.de www.omniversum.de BY-NC-ND

Wild peitschte der Wind übers Meer und trieb die Wellen in mächtigen Brechern zum Strand. Tiefdunkelgraue Wolken hingen über der Nordsee und es herrschte ein magerer Lichtrest, der den Abend von der Nacht schied. Kaum konnte man sich vorstellen, dass wenige Stunden zuvor noch die Herbstsonne geschienen hatte.

Nünü, der eigentlich Detlef hieß, kämpfte sich durch den Wind über den menschenleeren Strand Richtung Ostspitze der Insel, einen Bollerwagen hinter sich herziehend, dessen Ladung durch eine ölige, graue Plastikplane bedeckt wurde. Obwohl Nünü groß und kräftig von Statur war, bereitete ihm der Gang sichtlich Mühen. Der Wagen hinterließ eine tiefe Spur im festen Sand, die die Abdrücke seiner Gummistiefel umrahmten. Der Wind zerrte und zurrte an Nünüs schwärzlich-gelbem Friesennerz, den er schon seit über zwanzig Jahre besaß und von dem er sich nicht trennen konnte, obwohl ein neuer längst fällig gewesen wäre.

Es wurde immer dunkler und als er die Ostspitze endlich erreicht hatte und er das Leuchtfeuer von der Nachbarinsel herüberblinken sah, war es bereits Nacht. Noch hatte es nicht zu regnen begonnen und das Niedrigwasser war auf seinen Tiefststand. Die letzten Meter zur Wassergrenze würde er nun auch noch schaffen. Er seufzte kurz, obwohl es eigentlich nicht seine Art war.

Hier war sein Stammplatz, hier war ein alter Poller recht weit ins Watt geschlagen worden, zu einem Zweck, den niemand mehr kannte. Der Platz war ideal. Kaum ein Mensch kam hier heraus und die, die dennoch kamen, waren meistens nicht an einer alten Stange im Watt interessiert, noch daran, was an ihr befestigt sein mochte.

Er nahm eine große Taschenlampe aus der rechten Seitentasche und suchte sich seinen Weg zum Poller. Schließlich hatte er ihn erreicht. Er verschnaufte kurz, nahm einen Schluck aus dem Flachmann und inspizierte dann den Pfahl im Licht der Lampe. Alles sah gut aus. Er machte sich an den Bollerwagen zu schaffen, warf die Plane beiseite und holte eine lange Eisenkette hervor, die metallisch rasselnd auf den Wattboden glitt. Dann nahm der die Leiche von Frau Müller oder Meier oder wie immer sie geheißen haben mochte aus dem Bollerwagen, wo sie wie ein alter Sack gelegen hatte. Die Augen waren noch offen, starrten glasig über die schwarze Nordsee, aber Nünü vermied es, das Gesicht zu betrachten. Rasch und mit geübten Handgriffen befestigte er die Eisenkette am linken Fuß und prüfte durch kräftiges Ziehen, ob sie auch wirklich fest saß. Dann nahm er einen Karabinerhaken, hakte ihn in die Kette und ging damit zum Poller. Er arbeitete schnell, denn er durfte keine Zeit verlieren, bald würde das Wasser wieder anfangen zu steigen. Den Karabiner machte er in einen Ring am Poller fest. Das war's schon. Eigentlich kinderleicht.

Er warf die Plane wieder in den Wagen und machte sich ohne sich umzudrehen auf den Weg zurück ins Dorf. Er freute sich aufs Bier in der »Kajüte«. Für heute war seine Arbeit getan.

Drei Tage später war es bedeckt, aber es war die Sorte Wolken, die keinen Regen brachte. Der frühe Morgen war empfindlich kühl. Nünü war auf dem Rückweg von der Ostspitze und wieder war keine Menschenseele auf dem langen und breiten Strand unterwegs. Der Wind bließ von Ost, so dass er gut voran kam und bald gelangte er ins Dorf, wo er geradewegs zum Hafenamt steuerte. Noch hatte er etwas Zeit bis das Amt aufmachen würde, so setzte er sich an die Mole neben den Bollerwagen, aus dem es unter der Plane hervor erbärmlich stank und zückte den Flachmann. Möwen kreisten über den kleinen Hafen. Noch ein paar Stunden und die erste Fähre würde ankommen, sie würde ein paar unerschütterliche Kurgäste absetzen, alte Leute zumeist und ein paar Insulaner, die von Festlanderledigungen heimkehrten.

Der Beamte begrüßte Nünü mit einem herzlichen »Moin, moin«, als dieser in die kleine Amtstube trat.

»Moin, moin« erwiderte Nünü etwas brummig. Aber man kannte sich, hatte schon so manches Bier in der »Kajüte« zusammen getrunken. Irgendwo war man auch verwandt.

»Na, Nünü, was gibt es heute? Mal wieder 'ne Wasserleiche?«, fragte der Beamte und goss sich eine Tasse Tee ein.

»Jau, ick hef mal wieder een funnen.«

»Wie du das immer machst, Nünü.« Der Beamte schüttelte den Kopf. »Hastse schon nach hinten gebracht?«

Nünü nickte.

»Kuck ich mir dann gleich mal an. Willstn Tee?«

»Nee, danke. Nich so früh am Tach.«

Der Beamte trank seinen Tee aus, bevor er sich aufmachte, um die Wasserleiche zu untersuchen. Gemächlich ging er zur Hintertür raus, Nünü folgte ihm schlurfend. Der Beamte hob die Plane an, rümpfte die Nase und ließ sie schnell wieder fallen. »Na, dann machen wir mal den Papierkrams.« Sie gingen zurück, dieses und jenes Formular wurde ausgefüllt, unterschrieben und abgestempelt. Der Beamte holte eine mattgrüne Geldkassette aus seinem Schreibtisch, schloss sie auf und holte einen Schein heraus. Er reichte ihn Nünü.

»Jau, denn kriegste fünfzich Mark von mir.«

»Fein.« Nünü verstaute den Fünfzigmarkschein in seiner Hosentasche. »Ick mach mi dann maol wier up'n Wech. Tschüss denn.«

»Tschüß.« Der Beamte wandte sich wieder seinem Tee und der Zeitung von gestern zu.

Nünü verließ das Amt, nahm einen zufriedenen Schluck und ging nach Haus. Morgen, vielleicht übermorgen, würde er sich wieder auf die Suche machen.