Johann Layer, Malte Zill j.layer@ik-h.net   BY-NC-ND

Dass der musikalische Werkbegriff des deutschen Urheberrechtsgesetzes der tatsächlichen zeitgenössischen Musikästhetik nicht zu folgen vermag, liegt in der Natur der Sache, ist doch ein Gesetz als statische Konstruktion grundsätzlich nicht in der Lage, die Ästhetik als Teil des schnelllebigen gesellschaftlichen Diskurses zu bestimmen. So wird das Urheberrecht zwar in der Bestimmung und Beschreibung von einer gesellschaftlichen und ästhetischen Realität geleitet, diese ist aber im Sinne Carl Dahlhaus’ historisch zu verstehen (Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967) und sollte einer Revision unterzogen werden. Eine Urheberrechtsreform ist zwar 2001 erfolgt, die Veränderungen betrafen aber ausschließlich die Herausforderungen, die sich durch die veränderte Musikdistribution im Internet auf der Ebene des Copyrights ergeben haben. Keine besondere Beachtung erfuhr eine genauere Betrachtung der musikalischen Maßstäbe, die dem Urheberrecht vor allem in der Behandlung von Plagiaten zu Grunde liegen. Diese richten sich vornehmlich nach den Möglichkeiten der Analyse und beschränken sich mithin meist auf die musikalischen Parameter, deren schriftliche Fixierung am gebräuchlichsten ist, namentlich Melodie, Harmonie, Rhythmus und – sofern vorhanden – Text. Inzwischen wird von der Rechtssprechung auch zunehmend die Ähnlichkeit »dem Gehör nach« und »vom Klang her« (OLG München in ZUM 1992) berücksichtigt. Andere Aspekte, etwa solche der Performance oder der Visualität im Allgemeinen – die inzwischen insbesondere in der Popularmusik zweifellos einen hohen Stellenwert einnehmen – werden in Bezug auf Musik allerdings nur eingeschränkt erfasst, was die Möglichkeit schafft, die Mechanismen des Urheberrechts zu umgehen.

II

Ein Beispiel für diesen Vorgang konnte man bei dem diesjährigen Eurovision Song Contest in Oslo, genauer bei dem Beitrag IN A MOMENT LIKE THIS der Interpreten Chanée & (N)Evergreen aus Dänemark beobachten. Zwar handelt es sich um einen internationalen Fall, der nicht in die Sphäre des deutschen Urheberrechts fällt, doch zeigt der Fall exemplarisch Probleme auf, die sich sowohl für das deutsche wie auch für andere Urheberrechtsgesetze angesichts sich verändernder Musikästhetik stellen: Anstoß für eine nähere Untersuchung lieferte schon vor Erklingen des Stückes der deutsche Moderator des Abends, Peter Urban, der die Information preisgab, die Gruppe bezeichne ihre Musik selbst als eine Mischung aus The Police und ABBA. Dieser mehr als deutliche Verweis lässt sich weiter durch zahlreiche Foreneinträge z. B. auf YouTube stützen, in denen ebenfalls der Vergleich zu jenen Künstlern gezogen wird. Interessant ist dabei, dass die Bezüge zu ABBA und der zusätzlich genannten Tina Turner eher im Vagen bleiben, während im Falle von The Police häufig der Titel EVERY BREATH YOU TAKE von selbigen genannt wird. Betrachtet man IN A MOMENT LIKE THIS genauer, lässt sich zunächst sagen, dass sich der ABBA-Bezug auch nur auf konzeptioneller (gleichmäßige Geschlechterverteilung) und stilistischer Ebene (etwa die Parallelführung der Gesangsstimmen in Terzen z. B. im Refrain und auch die eingängige Harmonik und Melodik) – also nur anhand allgemeiner Charakteristika, die im Repertoire von ABBA häufig auftreten, nicht jedoch anhand eines spezifischen Songs – nachweisen lässt. Ein offensichtlicher Plagiatsvorwurf scheint hier demnach nicht angebracht. Eine vergleichende Untersuchung der Gesangsmelodie mit der von THE WINNER TAKES IT ALL von ABBA wäre allerdings durchaus interessant. Augenscheinlicher ist hingegen der Bezug zu EVERY BREATH YOU TAKE von The Police: die (Gesangs-)Melodie – nach dem »starren Melodieschutz« (Gunnar Berndorff, Barbara Berndorff, Knut Eigler (Hrsg.), Musikrecht, Bergkirchen 42004, S. 48). entscheidendes Kriterium zur Differenzierung zwischen einem Plagiat und der davon zu unterscheidenden freien Benutzung – erweckt spätestens im Refrain keinen offensichtlichen The Police-Plagiatsverdacht, auch wenn die Strophenmelodie zumindest gewisse Parallelen struktureller Art offenbart (in der ersten Zeile jeweils eine absteigende Linie, mit abschließendem Aufstieg in der letzten Silbe, in der zweiten Zeile jeweils eine absteigende Linie im Intervallspektrum einer Quinte).Wenn diese starke Meinungsbildung hinsichtlich der Ähnlichkeit beider Songs jedoch nicht auf die Melodie zurückzuführen ist, stellt sich die Frage, wie dieselbe dann zu erklären ist. Die Harmonik besteht in den Strophen beider Songs in den ersten fünf Takten jeder Zeile aus exakt derselben Akkordfolge (wenn auch in einer anderen Tonart), lediglich die Schlusstakte der Zeilen variieren leicht (während die Strophen von EVERY BREATH YOU TAKE jeweils in einer Kadenz in die Tonika bzw. Tonikaparallele enden, schließen die Zeilen von IN A MOMENT LIKE THIS jeweils auf der Dominante). Die trugschlüssige Wendung am Ende der ersten Strophe bei The Police findet sich am Ende des Refrains bei Chanée & (N)Evergreen. Auch die metrische Struktur beider Songs ist exakt dieselbe (4/4-Takt mit gleichmäßigen Achteln als Grundeinheit und Betonung der 2. und 4. Zählzeit) und der Schlagzeugrhythmus variiert nur leicht, das Tempo ist bei The Police allerdings wesentlich schneller als bei Chanée & (N)Evergreen. Die Texte beider Songs behandeln die gleiche Thematik (nach einer zerbrochenen Beziehung vermisst der/die Protagonist(in) den/die Ex-Partner(in)) in einem ähnlichen Stil. Die prägnanten Gitarren-Arpeggi aus EVERY BREATH YOU TAKE dienen auch in IN A MOMENT LIKE THIS als Textur der Gitarrenstimme, sind nur sehr leicht abgeändert. Das verwendete Tonmaterial (Grundton des jeweiligen Akkords, Terz, Quinte, None) ist dasselbe und vier der acht Achtel des Taktes stimmen exakt überein, wie folgende Notenbeispiele (der Übersicht halber sind beide Beispiele nach G-Dur transponiert) zeigen:


Gitarrenriff EVERY BREATH YOU TAKE      Gitarrenriff IN A MOMENT LIKE THIS

Abgesehen von der Gesangsmelodie weisen also jene schriftlich fixierbaren musikalischen Parameter – Harmonik, Begleitstruktur, Rhythmik, Songtext – zumindest der Strophen von IN A MOMENT LIKE THIS auffallend viele und prägnante Parallelen zu EVERY BREATH YOU TAKE auf. Aufgrund der nicht ohne Weiteres möglichen schriftlichen Fixierbarkeit erweist sich die Analyse anderer Parameter naturgemäß als schwieriger. Ohne in diesem Rahmen auf eine vergleichende Soundanalyse zurückgreifen zu können, scheint jedoch eine gewisse Ähnlichkeit des Produktionssounds nicht von der Hand zu weisen zu sein.

Einen weiteren Bezug könnte man aus dem Namen des Künstlers lesen. (N)Evergreen suggeriert einen Bezug auf einen Song, der in seiner Bedeutung überragend ist. Der Song EVERY BREATH YOU TAKE kann als ein solcher Evergreen bezeichnet werden. Man könnte aus dieser Namensgebung also – wenn man es böse meint - ein weiteres Indiz für eine ebenso bewusste Kopie des Songs schließen, die allerdings unsinnig ist, da der Künstler schon vor Veröffentlichung von IN A MOMENT LIKE THIS unter diesem Synonym agierte.

III

Bei so vielen offensichtlichen Parallelen auf verschiedensten Ebenen zwischen beiden Songs stellt sich natürlich die Frage, ob es sich bei IN A MOMENT LIKE THIS um ein The Police-Plagiat handelt. Worin genau besteht das geistige Eigentum von Chanée & (N)Evergreen und inwiefern wurde dasselbe von Sting bzw. The Police unrechtmäßig angetastet? So offensichtlich die genannten Ähnlichkeiten sind – schützenswert ist im deutschen Urheberrecht kein »gerader« 4/4-Takt, keine Akkordfolge (zumal die hier verwendete wohl völlig wertfrei als »konventionell« bezeichnet werden darf) und erst recht kein »Aussehen« eines Künstlers, dessen vergleichende Analyse ebenso schwer begrifflich bestimmbar ist wie die von Sound- und Performanzaspekten. Trotzdem scheint die Anlehnung an einen bestimmten Song hier wesentlich expliziter und die schöpferische Eigenleistung des dänischen Duos weitaus geringer zu sein als bei manch einem Hiphop-Sample, das aufgrund von nachweisbaren melodischen Ähnlichkeiten Plagiatsvorwürfen ausgesetzt ist. Durch die Kombination von Ähnlichkeiten auf verschiedenen Ebenen, die jeweils für sich betrachtet nicht schützenswert sind, ergibt sich im Gesamteindruck die deutliche Assoziation, die sich etwa in dem einheitlichen Meinungsbild in Internetforen äußert. Mit der Gesellschaft ändern sich auch Rolle und Urteilskriterien von Musik in derselben und das Urheberrecht sollte dringend auf diesen gesellschaftlich-kulturellen Diskurs reagieren, was bedeutet, dass neben der Akzeptanz des Sounds als wesentlichem musikalischem Parameter auch Aspekte der Visualität – die im postmodernen Zeitgeist, manifestiert durch das Aufkommen des Musikvideos und die Möglichkeiten der Verbreitung durch das Internet, nicht mehr von »musikalisch-immanenten« Aspekten zu trennen ist – , d. h. des Aussehens und Auftretens von Interpreten im Geiste eines »Gesamtkunstwerks« zu berücksichtigen sind, da andernfalls juristische Auffassungen des Werkbegriffs, der schöpferischen Leistung und des geistigen Eigentums unzeitgemäß bleiben und falsche Maßstäbe für Plagiatsfälle angelegt werden.

Ebenfalls nicht ohne Weiteres schriftlich fassbar ist der Aspekt der Visualität. Es verwundert nicht, dass das Urheberrecht einen solchen außermusikalischen Parameter nicht in die Untersuchung von (musikalischen) Plagiatsfällen einbezieht. In dem vorliegenden Beispiel ist die Ähnlichkeit zwischen (N)Evergreen und Sting, dem Sänger der Gruppe The Police derart markant, dass eine bewusste Nachahmung wahrscheinlich ist. Die Abbildungen beider Sänger sprechen für sich, sind die Übereinstimmungen in Haarfarbe und Frisur doch überdeutlich. Sogar die Augenfarbe ist ähnlich, was aber zu vernachlässigen ist, da hier nur eingeschränkt Veränderungen vorgenommen werden können: Wer blaue Augen hat, hat eben blaue Augen. Es soll aber als Verdeutlichung dafür bestehen bleiben, wie detailliert hier eine visueller Bezug aufgebaut wird.